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Lesender Arbeiter, 1961

Engelhardt, Ludwig

Der Lesende Arbeiter Ludwig Engelhardts ist ein Paradebeispiel für missverständliche oder verweigerte Rezeption, in diesem Fall infolge umfassender ideologischer Inanspruchnahme durch die Pädagogen des "ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden". Vielleicht gibt es niemanden unter denen, die seit den 1960er Jahren die DDR -Schulen besuchten, dem der Lesende Arbeiter nicht als Abbildung im Lesebuch oder anderswo begegnet ist, meist in Verbindung mit dem ebenso benutzten Brecht-Gedicht, dessen Titel Fragen eines lesenden Arbeiters oft auf die Plastik Engelhardts übertragen worden ist. Beide wurden für viele zum bald einfach überblätterten Synonym dessen, was die sozialistische Schule ihnen als ideologisch korrekte Interpretation von Literatur und Kunst abforderte und das sie, wenn auch widerwillig, in aller Regel auch abgeliefert haben.

Wie hartnäckig dieser Reflex fortwirkt, scheint heute die Rampe mit teurem Edelstahlgeländer zu belegen, die neuerdings die Wahrnehmung der Plastik behindert. Das immerhin ist der Figur des 99-Tage-Kaisers Friedrich III., die hier ursprünglich, und zwar anlässlich der Eröffnung des Museumsneubaus, 1906 auf den Sockel gehoben worden war, erspart geblieben.

In einem Artikel in der Berliner Zeitung vom 11. September 2010 beschrieb Friedrich Nostitz, engster Mitarbeiter bei Engelhardts Marx-Engels-Projekt für Berlin, dessen 1961er Bronzefigur lapidar als "barfüßigen Arbeiter mit einem Buch in der Hand, der fragend in den Himmel blickt". Er beseitigt damit das ganze ideologische Kondensat, das sich auf unserer Sichtscheibe abgesetzt hatte, mit einer einzigen Bewegung.

Nostitz hat auch die Frage überliefert, auf die es im Frühjahr 1978 während eines unangemeldeten Besuchs von Erich Honecker und Kurt Hager auf Engelhardts Werkplatz in Gummlin gekommen sein soll, nämlich warum Marx sitze und Engels stehe. "Engelhardt", so Nostitz, "verwies auf das Recht des Königs, auf dem Thron zu sitzen." Honecker war verunsichert.

Der "Thron" von Marx in Berlin ist ein ebensolcher Block wie der, auf dem der Lesende Arbeiter sitzt. Man könnte ihn auch als Koffer identifizieren. Hier geht es nicht darum worauf, sondern auf welche Weise eine Figur sitzt. Diese "die Unterschenkel wenig nach vorn gesetzt und nur so weit geöffnet, dass die Hände und Buch dazwischengelegt werden können, der Rücken nur leicht gerundet, noch aufrecht" zielt auf Stabilität und Spannung, aus denen das spürbar von innen gefühlte, mächtige, ins Abstrakte tendierende Volumen des Körpers sich aufbaut. Auch die Physiognomie, mit Ausnahme der Augen, addiert sich dieser Grund-Haltung. Ihr bedarf es ganz offenbar, um das Lesen auszuhalten. Dessen Spuren, metaphorisch gesprochen, fallen aus den Augen in die ungewöhnlich schlanken und zarten, nervig ausgearbeiteten Hände und heben - das hat durchaus etwas Humoriges - die großen Zehen vom Boden. Das Lesen, so ließe sich dieser Vorgang vergröbert ins Sprichwörtliche übersetzen, will hier Hände und Füße haben.

Über den Künstler

Ludwig Engelhardt (geboren 18. August 1924 in Saalfeld/Saale; gestorben 18. Januar 2001 in Berlin) war ein deutscher Bildhauer.

Nach einer Ausbildung zum Möbeltischler studierte Engelhardt von 1951 bis 1956 an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und war danach bis 1958 Meisterschüler bei Heinrich Drake. Seit 1969 war er Mitglied der Akademie der Künste, von 1974 bis 1978 als Sekretär der Sektion Bildende Kunst. Mehrere Jahre seines Lebens hielt er sich in Gummlin auf Usedom auf, wo die Figurengruppe Karl Marx und Friedrich Engels entstand.

WERKE

: Am Strand, 1961

: Lesender Arbeiter, 1961

: Dreiergruppe für das Lagermuseum Auschwitz, 1963

: Bildnis des Helden der Arbeit LPG-Vorsitzender Willi Schäfer, 1964

: Gruppe LPG-Bauern in Dorf Mecklenburg, Plastik, 1971-76

: Die Menschen meistern den Planeten Erde, Bronzerelief, 1967-75

: Karl Marx und Friedrich Engels, Figurengruppe für das Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte, 1986

(Quelle: de.Wikipedia.org)