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Hans Viktor von Unruh

 

 

 

 

 

 

Unruh, Hans Victor von

geb. 28. März 1806 in Tilsit/Ostpreußen
gest. 4. Februar 1886 in Dessau

Unternehmer, Ingenieur, Regierungs- und Baurat

 

U. war Sohn des Generalmajors Friedrich Wilhelm von U. (1766-1835) und der Karoline Freiin von Buttlar (1776-1858). Nach dem Besuch des Gymnasiums in Königsberg absolvierte er eine Lehre als Geodät. Im Anschluss arbeitete er bei der Generalkommission zur Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse und Separationen. Da ihn das Baufach besonders interessierte, folgte ein Studium an der Berliner Bauakademie. 1828 legte er bei Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) sein Examen ab. Jahrelang war U. nun im Dienst der Regierung als Ingenieur in Breslau tätig. Er leitete u. a. von 1835 bis 1839 die Vorarbeiten für den Bau der oberschlesischen Eisenbahn. 1839 wurde er zum Regierungs- und Baurat in Gumbinnen ernannt. 1843 ließ er sich zur Regierung nach Potsdam versetzen und ein Jahr später vom Staatsdienst beurlauben, um bald ganz aus ihm auszuscheiden. Er unternahm Studienreisen, u. a. mit dem „Lokomotivenkönig“ August Borsig, den er aus seiner Tätigkeit in einer 1837 von der preußischen Regierung berufenen Kommission, die sich über nationale und internationale Eisenbahnangelegenheiten informieren sollte, näher gekannt haben dürfte. U. reiste zum Beispiel nach England, um seine Kenntnisse als Techniker zu vervollkommnen. Diese hatten sich längst herumgesprochen. So übernahm U. im Jahre 1846 auf ausdrücklichen Wunsch von Oberbürgermeister August Wilhelm Francke (1785-1851) den Bau der Magdeburg-Wittenberger Eisenbahnstrecke und trat auch in das Direktorium der Gesellschaft ein. Besonders interessierte ihn nach eigenen Angaben der Bau der Brücke über die Elbe bei Wittenberge. So siedelte er im Herbst 1846 nach Magdeburg über. Zugleich beendete er den Streckenbau der Eisenbahn von Potsdam nach Magdeburg durch Errichtung der Elbüberführung, einer Sieben-Pfeiler-Brücke (später zur Dreh-, dann zur Hubbrücke umgebaut, heute unter Denkmalschutz stehend); die Strecke von Potsdam bis Friedrichstadt (heute Brückfeld)-Magdeburg war zuvor bereits eröffnet worden.

In die Magdeburger Zeit fiel das erste politische Engagement von U., der liberal-konstitutionelle Gedanken englischer Prägung vertrat. Mit den Stimmen der gemäßigten Liberalen und einiger Konservativer wurde er nach dem Ausbruch der Revolution 1848 für Magdeburg neben Friedrich Pax (1798-1867) überraschend in die Preußische Verfassungsgebende Versammlung in Berlin gewählt. Hier schloss sich der Anhänger der konstitutionellen Monarchie erst dem linken, später dem rechten Zentrum an. Am 17. Oktober 1848 wurde U. zunächst zum Vizepräsidenten und am 28. Oktober 1848 zum Präsidenten der Verfassungsgebenden Versammlung gewählt. Dies geschah zu einer Zeit, als König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) zum Staatsstreich überging: Er bildete am 8. November ein neues Ministerium unter dem Grafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1792-1850), ließ vier Tage darauf Berlin durch General Friedrich von Wrangel (1784-1877) besetzen, rief den Ausnahmezustand aus und löste am 5. Dezember 1848 das Parlament gewaltsam auf. Dieses hatte er einige Tage zuvor in die Provinz Brandenburg abgeschoben. U. lehnte den bewaffneten Kampf als Reaktion auf die beginnende Konterrevolution ab. Gegen die Verlegung des Parlaments in die Provinz proklamierte er den „passiven Widerstand“, also das Fernbleiben der Abgeordneten von den Sitzungen in Brandenburg. Als der linke Flügel des Parlaments im November 1848 die Steuerverweigerungskampagne startete, wandte sich U. dagegen.

Im Januar 1849 wurde U. für Magdeburg in die Zweite Kammer des Preußischen Landtags gewählt. Da der preußische Landtag die von der Frankfurter Nationalversammlung ausgearbeitete Reichsverfassung anerkannte, ließ der König ihn auflösen. U., der für die Annahme der Kaiserkrone agitiert hatte, sprach sich im Juni 1849 öffentlich gegen das Dreiklassenwahlrecht aus.

Durch seine Haltung 1848/49 hatte sich U. zu einer liberalen Symbolfigur erhoben und den Unwillen des Königs zugezogen. Als die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung 1850 U. als neuen Oberbürgermeister ihrer Stadt vorschlugen, lehnte Friedrich Wilhelm IV. seinen „Gegenkönig“ aus dem Revolutionsjahr entschieden ab. Um weiteren Schikanen zu entgehen, siedelte U. 1855 nach Anhalt über. In Dessau gründete er 1855 die Deutsche Continental-Gasgesellschaft. Unter seiner Leitung entstanden in mehreren Städten Gasanstalten, so in Magdeburg, Mönchengladbach, Lemberg, Warschau, Potsdam, Frankfurt/ Oder und Mülheim/ Ruhr. In Magdeburg war er auch am Bau des Wasserwerkes auf dem Wolfswerder beteiligt. Den Vorsitz der Continental-Gasgesellschaft gab U. bereits 1857 wieder ab. In Berlin übernahm er die ihm angebotene Stelle des Generaldirektors der 1856 gebildeten Aktiengesellschaft für die Fabrikation von Eisenbahnbedarf an, blieb aber weiterhin unbesoldetes Mitglied des Direktoriums der Dessauer Continental-Gasgesellschaft. Durch die beruflichen Veränderungen nahm er 1857, spätestens 1858 seinen Wohnsitz in Berlin, wo er bis 1874 lebte. Entgegen früherer Versprechungen aus Regierungskreisen setzten erneut staatliche Repressalien ein, so dass er den Posten des Generaldirektors der Fabrik für Eisenbahnbedarf abgeben musste. Er war aber weiterhin als Mitglied des Verwaltungsrates des Unternehmens tätig, in dem bis zu 2000 Arbeiter beschäftigt gewesen sein sollen. In der Zeit der „Neuen Ära“ in Preußen konnte U. wieder in die Politik zurückkehren. 1859 gehörte er zu den Mitbegründern des Deutschen Nationalvereins und kurze Zeit später der Deutschen Fortschrittspartei. Von 1861 bis 1863 war er erster Vorsitzender der Fortschrittspartei. 1863 zog er erneut mit dem Mandat Magdeburgs in das preußische Abgeordnetenhaus ein. Er gehörte zunächst zu den Gegnern Otto von Bismarcks (1815-1898), schwenkte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre aber auf dessen Politik – Einigung Deutschlands unter preußischer Führung - ein, denn er gab der nationalen Einigung den Vorrang vor anderen Fragen. Nach Zusammenbruch der Deutschen Fortschrittspartei infolge der Annäherung an Bismarcks Politik gründete U. zusammen mit Rudolf von Bennigsen (1824-1902) 1867 die Nationalliberale Partei. Ab 1867 saß U. für Magdeburg im Norddeutschen bzw. Deutschen Reichstag, im Januar 1871 nahm er an der Kaiserproklamation in Versailles teil. Auf seine Initiative geht das heute noch im Parlament angewandte Abstimmungsverfahren des „Hammelsprungs“ zurück. Am 10. September 1879 legte U. sein Mandat nieder. 1876 erklärte Magdeburg ihn zum Ehrenbürger, vier Jahre darauf Dessau.

 
Unruh, Hans Victor von: Erinnerungen Aus Dem Leben Von Hans Viktor Von Unruh (geb. 1806, gest. 1886), hg. von Heinrich von Poschinger, Stuttgart 1895; Ehrenbürger der Stadt Magdeburg, bearb. vom Stadtarchiv Magdeburg, Magdeburg 1994; Heinrich, Guido/Schandera, Gunter (Hg.): Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert, Magdeburg 2002; Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39, Leipzig 1895; http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Victor_von_Unruh.                                                                   

Maren Ballerstedt